Wywiad z Dimitrim K.

Erzähl` mir bitte von der ethnischen Konstellation in deiner Familie, d.h. die Eltern deines Vaters und deiner Mutter betreffend!

Die Eltern meines Vaters sind deutschstämmig, mütterlicher- und väterlicherseits. Die Eltern meiner Mutter sind russischstämmig.

Sind die Eltern deines Vaters aus der Wolgarepublik gekommen oder wurden sie aus Deutschland deportiert?

Die Eltern meines Vaters väterlicherseits stammen aus Tula.

Liegt das in Russland?

Ja, das ist bei Moskau.
Und mütterlicherseits sind sie, glaube ich, schon aus der Wolgarepublik gekommen.

Und sie sind im Rahmen der stalinistischen Deportationen nach Kasachstan gebracht worden, weil sie als Feinde betrachtet wurden?

Ja. Also sagen wir mal als Gefahr.

Wie waren die Lebensumstände in Kasachstan? Welche Sprache habt ihr in der Familie und im Alltag gesprochen?

Zu Hause haben wir Russisch gesprochen und die Lebensumstände für uns, für mich, waren ganz gut, also ich würde sagen gehobene Mittelklasse.

Also habt ihr nur Russisch gesprochen? Kasachisch und Deutsch haben keine Rolle gespielt?

Nein. Für mich nicht.

Und bei den Großeltern?

Bei den Großeltern väterlicherseits haben wir auch Russisch gesprochen, kein Deutsch, obwohl ich glaube, dass sie es konnten, zumindest im Ansatz. Und mütterlicherseits auch nur Russisch.

Und was denkst du, warum sie kein Deutsch gesprochen haben?

Es gab keinen Grund dafür, kein Motiv.

Also hat es für sie auch keine große Bedeutung gehabt, sie haben ihr „Deutschtum nicht aktiv gepflegt?

Sie haben sich schon als Deutsche identifiziert, aber zu Hause nur Russisch gesprochen.

Wo in Kasachstan habt ihr gelebt?

In Temirtau. Die nächstgrößere Stadt ist Karaganda.

War das eine kleine Stadt oder eher ein Dorf?

Nein, das war eine Stadt mittlerer Größe, ungefähr so wie Chemnitz.

Gab es dort auch viele Kasachen und Russen?

Ja, die ethnische Zusammensetzung wie ich gesehen habe, war in der Mehrheit eher russisch und Kasachen gab es auch, aber die waren in der Minderzahl, zumindest habe ich sie in meiner subjektiven Wahrnehmung in der Minderzahl wahrgenommen.

Du bist in Kasachstan auch noch zur Schule gegangen? Wie war dort das Miteinander mit den kasachischen und russischen Mitschülern?

Es hat sich nicht irgendwie besonders ausgezeichnet. Ich war wie jeder andere Schüler auch. Es gab wenige kasachische Mitschüler und die hat man eher als Sonderfall betrachtet, weil sie ebnen in der Minderzahl waren. Der Rest war eher russisch. Da gab es keine Unterschiede, also es wurden keine Unterschiede gemacht.

Wie war das Befinden in eurer Familie? Habt ihr euch gut eingebettet und als Teil der damaligen Gesellschaft in Kasachstan gefühlt?

Wir waren gut integriert, würde ich sagen. Es gab höchstens Veränderungen als Kasachstan unabhängig wurde.

Was ist da passiert als Kasachstan unabhängig wurde?

Naja, also es gab die Forderung von offizieller Seite, dass man Kasachisch als Sprache lernen musste. Das musste ich in der Schule und auch meine Eltern im öffentlichen Dienst.

Welchen Beschäftigungen, berufen sind deine Eltern in Kasachstan nachgegangen?

Beide waren bei der Feuerwehr. Meine Mutter war als Inspektorin tätig in diesen metallurgischen Fabriken und mein Vater war Hauptmann, das war sein Dienstgrad, vor allem für Brandschutz, glaube ich.

Und er hatte ein Studium dafür durchlaufen?

Ja, das, was man als Studium bezeichnet. Es gab so etwas wie Technikum, das war, glaube ich so etwas wie Berufsschule und dann gab es sowas, was man als Institut bezeichnet, das war ungefähr so ein Äquivalent zum Hochschulstudium.

Also insgesamt ging es eurer Familie eigentlich ziemlich gut in Kasachstan?

Ja, ja, im Vergleich ging es uns gut.

Hat Deutschland eine Rolle in eurer Familie gespielt, gab es Gedanken an Deutschland?

Naja, für uns hat es keine Rolle gespielt, aber für die Großeltern, also die Eltern meines Vaters schon. Denn aus deren Stammlinie hatten sich einige schon nach Deutschland in den frühen neunziger oder ich glaube auch schon späten achtziger Jahren verabschiedet. Und sie wollten dann die Möglichkeit ergreifen, auch nach Deutschland auszureisen.

Das heißt, dass ihr in eurem engeren Familienkreis kein relevantes Bild von Deutschland hattet und euch dazu auch gar keine Vorstellungen gemacht habt?

Nein.

Und wann und warum kam es dann zu der Entscheidung, nach Deutschland auszureisen?

Wann kann ich nicht genau sagen, ich kann es nur grob sagen. Anfang der neunziger Jahre, als Kasachstan unabhängig wurde, gab es einen starken Währungsverlust. Man konnte wenig kaufen. Die Binnenmärkte sind mehr oder weniger zusammengebrochen, die Versorgungslage wurde immer schlimmer. Und mein Vater war im öffentlichen Dienst, hatte also schon einen hohen Dienstgrad und ihm hat man dann gesagt, dass er sich in die neue kasachische Gesellschaft integrieren muss, dadurch zum Beispiel, dass er Kasachisch lernt.
Also im Endeffekt war die Frage, wenn man das so ganz generell reduziert, in welche Gesellschaft kann er sich assimilieren – kasachische oder deutsche Gesellschaft. Im Endeffekt hat er sich für die deutsche Gesellschaft entschieden, weil er dachte, dass sie ihm näher ist als die kasachische, und weil es einen Unsicherheitsfaktor gab, ob er in seiner Position bleiben könnte oder ob er noch weiter hinauf käme und das hat er wohl für sich mit Nein beantwortet bzw. war es zweifelhaft. Er wusste nicht, ob es eine Stabilität geben wird oder nicht, auch in der Gesellschaft.

Und wie stand deine Mutter dazu?

Naja, für meine Mutter war das so, dass sie mit der deutschen Gesellschaft einfach nichts anfangen konnte. Das war nicht ihre Gesellschaft. Ja und wenn sie sich dafür entschieden hat, es dem Vater gleich zu tun und nach Deutschland auszureisen, hat sie das auch wegen der drohenden Unsicherheit in der kasachischen Gesellschaft gemacht.

Aber grundsätzlich wäre sie wohl schon lieber dort geblieben?

Ja, wenn es, ich sage mal, eine Fortsetzung dieses Zustands der achtziger Jahre gegeben hätte und es nicht zu diesen Unsicherheiten und Umbrüchen gekommen wäre, dann hätte sie sich wahrscheinlich eher dafür entschieden.

Weißt du, wie deine Eltern davon erfahren haben, dass es diese Möglichkeit der Ausreise nach Deutschland gab?

Nein, weiß ich nicht, aber ich glaube, mein Vater hat es über seine Eltern erfahren, d.h. im Detail kann ich mich erinnern, dass er die Anträge oder so etwas über seine Eltern bekommen oder dort schon mal das erste Exemplar gesehen hat.

War die Organisation der Ausreise sehr umständlich? Gab es viele bürokratische Hürden?

Ja, es gab einige bürokratische Hürden, ja.

Und wie war der Abschied von Kasachstan? Ich könnte mir gerade in deiner Situation, du bist zur Schule gegangen, vorstellen, dass es schwer war? Wie alt warst du damals?

Ich war 8. Naja, für mich war das kein großes Drama. Es war natürlich ein Abschied, aber kein großes Drama. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir wirklich an die Substanz gegangen wäre.

Sind irgendwelche Familienteile in Kasachstan geblieben?

Ja, mütterlicherseits sind ein paar Tanten übrig geblieben. Und väterlicherseits sind noch einige dageblieben und dann später nachgekommen. Und die Schwester vom Vater ist erst einmal nach Deutschland ausgereist und dann einige Jahre später wieder nach Kasachstan zurückgekehrt, weil sie dort einen Lebensgefährten hatte.

Also lässt sich grundsätzlich sagen, dass all jene, welche die Möglichkeit zur Ausreise hatten, auch ausgereist sind?

Ja. Es gab eher eine Tendenz auszureisen als nicht auszureisen, wenn man die Möglichkeit hatte.

Erzähl mir von eurer Ankunft in Deutschland, euren Eindrücken? Wo habt ihr gelebt, wie habt ihr gelebt?

Wir sind mit dem Flugzeug in Hannover gelandet. Deshalb war der erste Eindruck der Flughafen. Ja, daran kann ich mich erinnern, ich fand das architektonisch sehr interessant, so einen Baustil habe ich nicht gesehen.

Wie unterscheidet er sich von den anderen Flughäfen?

Naja, er war sehr verglast, da wurde viel mit Glas gearbeitet usw. und das ist eigentlich nicht so typisch für sozialistische Flughäfen.
Und dann draußen die Natur in Deutschland war viel grüner als Kasachstan. Ich hatte immer diesen Eindruck des saftigen Grüns, was mich ziemlich beeindruckt hat am Anfang.
Und dann waren da auch noch irgendwelche Malteser oder irgend so jemand von einer Hilfsorganisation die uns empfangen haben. Die haben mir auch einen Schluck aus einem Erfrischungsgetränk gegeben, dass mir geschmeckt hat.
Und dann sind wir mit einem Bus nach Hamm gefahren, wo es so ein Auffanglager gab. Und dort sind wir geblieben, ich glaube sogar einen Monat lang. Das ist eben so eine Weststadt. Und dort haben wir irgendwelche Unterlagen ausgefüllt usw., das haben aber meistens die Eltern gemacht. Ich kann mich nur erinnern, dass dort eine Kantine gab, so etwas wie die Mensa und wir haben dort immer gegessen. Und wir haben in so einem Mehrbettzimmer geschlafen, mit einer anderen Familie sogar am Anfang.
Danach, nach einem Monat, sind wir weiter. Also uns stand es frei, uns zu orientieren, wohin wir wollten. Das war abhängig von den Familienbanden. Und wir hatten ja schon Familie in Deutschland, zu denen wir hätten fahren können, das war väterlicherseits, Im Westen, in Rheinland-Pfalz, glaube ich. Oder mütterlicherseits gab es sogar auch schon welche, die aber in Sachsen waren. Im Endeffekt fiel die Entscheidung dann zugunsten der Verwandten der Mutter und wir sind nach Sachsen gefahren und dort in das Auffanglager Bärenstein. Dort waren wir weitere, ich weiß jetzt nicht wie lange, ein oder zwei Monate und dann sind wir nach Chemnitz gekommen.

Wie hat sich das Leben in Chemnitz entwickelt? Du bist ja dann sicherlich zur Schule gekommen? Ging das relativ schnell?

Naja, wir sind quasi im Mai 1994 nach Deutschland gekommen. Danach, diese ganzen Auffanglager usw., dieses ganze Prozedere hat ja schon recht lange gedauert. Bis wir dann in Chemnitz waren, wo wir wiederum in einem Auffanglager untergebracht waren, in diesen Plattenbauten dort in der Max-Müller-Straße, wo ja auch mehrere Familien in einer Wohnung lebten, hat es eben so lange gedauert bis die Sommerferien angefangen haben und ich nicht in die Schule gegangen und ich im Herbst 1994 erst eingeschult worden bin. Also habe ich ein halbes Schuljahr verpasst.

Hattest du eine Vorbereitung auf die Schule? Du konntest anfangs ja kein Deutsch sprechen…

Ja, es gab eine Vorbereitungsklasse in der Schule, in der wir meistens Deutschunterricht gemacht haben. Und das hat wieder ein paar Monate oder vielleicht einen Monat oder anderthalb Monate gedauert. Und danach kam man dann in eine richtige Schulklasse.

Hast du die Sprache schnell gelernt?

Ja. Also die Vorbereitungsklasse war recht einfach für mich, ich habe mich gut zurechtgefunden und die Sprache recht schnell gelernt. Und ich wurde dann in die zweite Klasse zurückgesetzt, obwohl ich die zweite Klasse in Kasachstan schon angefangen hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass mir ein halbes Jahr gefehlt hat.

Wie kamst du mit dieser Zurückstufung zurecht?

Mir war das egal. Aber ich fand es teilweise schwer, mich in die Klasse zu integrieren. Das war die einzige Schwierigkeit. Eigentlich habe ich so weiter nicht darüber nachgedacht.

Und warum war es schwer für dich, dich zu integrieren?

Weil ich allein auf mich gestellt war. Da waren zwar schon irgendwelche Aussiedler, die mehr oder weniger integriert in die Klasse waren, also integriert, soweit man es sein konnte. Und ich empfand die Stimmung teilweise als unfreundlich mir gegenüber oder ich empfand mich als Fremder.

Wie hat sich das ausgedrückt?

Naja, ich wurde einfach nicht integriert, von den anderen Mitschülern nicht angesprochen, sondern eher so allein gelassen.

Wie ging es nach der Grundschule weiter?

Nach der Grundschule bin ich in die Mittelschule gegangen. Aber es war ein expliziter Wunsch meiner Eltern, dass ich auf das Gymnasium gehe, Sie wollten das schon in der Grundschule, aber da waren meine Noten nicht gut genug, um sofort aufs Gymnasium gehen zu können. Deshalb musste ich erst einmal auf die Mittelschule, dort hatte ich gute Noten und dort hat sich auch diese Interaktion mit der Klasse verbessert. Ich war besser integriert, es hat mir mehr Spaß gemacht. Dann war der Notenschnitt gut genug und dann konnte ich auch auf das Gymnasium. Aber das war eigentlich der Wunsch meiner Eltern.

Hat sich auf dem Gymnasium der Integrationsgrad weiter verbessert?

Nein, er hat sich sogar verschlechtert. Dafür gibt es, glaube ich, mehrere Faktoren. Zunächst einmal waren in der Klasse, in die ich gekommen bin, zwei weitere Aussiedler, mit denen ich eher Kontakt aufgenommen habe als mit dem Rest der Klasse. Der Rest der Klasse war eher so zurückhaltend, natürlich. Es war viel einfacher für mich, mit diesen beiden Menschen Kontakt aufzunehmen, als mit dem Rest der Klasse, der, wie immer, zurückhaltend war. Und außerdem war das ja in der 6. Klasse, d.h. die Klassendynamik war schon gegeben und da war es schwieriger, sich zu integrieren. Zum anderen hat die Lehrerin, vielleicht durch ihr Unwissen oder durch irgendwelche fälschlichen Annahmen, wie man Menschen in eine Klasse integriert, immer hervorgehoben, dass wir anders und irgendwie fremdartig sind und wir uns deswegen bemühen sollten, uns in die Klasse zu integrieren.

Und so etwas ist in der Mittelschule nicht passiert?

Nein, das war nicht so. In der Mittelschule haben alle angefangen, es gab den gleichen Start, die gleichen Bedingungen für alle und da gab es so etwas nicht. Da bin ich direkt in die Klassendynamik, ins Klassengefüge hineingewachsen. Ich habe mich nicht ausgegrenzt gefühlt, habe mich wohlgefühlt.

Das heißt, von den anderen Mitschülern im Gymnasium bis du auch eher ausgegrenzt worden?

Ja, nach einiger Zeit war die Tendenz eher so, dass ich ausgegrenzt wurde. Ich würde nicht sagen, dass es von Anfang an so war, aber nach einiger Zeit war die Tendenz eher dahingehend, dass bestimmte Mitschüler versucht haben, mich auszugrenzen und zu hänseln usw.

Und weswegen wurdest du gehänselt?

Wahrscheinlich wegen der Andersartigkeit. Man konnte das irgendwie so negativ darstellen bzw. auffassen. Und dann hat man das als eine Art Minderwertigkeit dargestellt oder das versucht als eine Art Beleidigung zu formulieren und einem an den Kopf zu schmeißen.

Ganz konkret: Hat man dich als „Russen“ bezeichnet?

Ja.

Und gab es noch irgendetwas?

Naja, diesen Zusammenhang gibt es offensichtlich, dass man, wenn man sich in einem Klassengefüge wohlfühlt und integriert ist, durch die Entspannung und das Wohlgefühl, das in einem herrscht und vielleicht auch die Freude am Lernen dann einfach bessere Leistungen in der Schule bringen kann. Und bei mir war das so im Gymnasium, dass ich am Anfang schon gute Leistungen gebracht habe, mich dann aber in bestimmten Fächern stark verschlechtert habe und ich glaube, das lag zum Teil daran, dass ich erstens nicht so ein gutes Verhältnis mit allen Lehrern hatte, mit einigen Lehrern war das Verhältnis angespannt und zweitens die Stimmung in der Klasse sich eher gegen mich als für mich gewendet hat. Und durch diesen Druck und dieses Gefühl der Andersartigkeit und Nichtzugehörigkeit usw. haben sich dann teilweise meine Leistungen verschlechtert und das wurde dann wiederum negativ gedeutet von den Mitschülern und mir wieder zu Lasten gelegt als quasi ein inhärentes Merkmal meiner Minderwertigkeit, genauso wie meine Herkunft.

Also hattest du in der Schule schon ein relativ konfliktreiches Leben?

Im Gymnasium ja, auf jeden Fall.

Hat sich das dann bis zum Ende so fortgesetzt?

Naja, am Ende hat es sich dann verbessert. Es gab ja auch mehrere Wechsel, man kommt in andere Klassen usw., es gibt neue Konfigurationen, neue Zusammenstellungen. Und in der Sekundarstufe 2 war es dann eher so, dass diese negative Klassendynamik nicht mehr so wichtig war. Das hat sich dann eher aufgesplittet und es gab sozusagen keine Gesamtklasse mehr, sondern nur noch Grüppchen in der Klasse, so dass also eine Konstellation von Klasse gegen ein bestimmtes Mitglied der Klasse gar nicht mehr vorhanden war. Sondern es gab eher einzelne Grüppchen in der Klasse und über Klassengrenzen hinaus und die haben dann irgendwie miteinander interagiert usw. Ich wurde dann mehr oder weniger in Ruhe gelassen.

Wie ging es weiter, nachdem du das Abitur bestanden hattest? Du bist nun zur Universität gegangen und wie hat sich da die Situation entwickelt, gerade im Hinblick auf die Konflikte, die du in der Schule durchgestanden hast? Gab es noch Parallelen oder hat es sich dort komplett anders dargestellt?

In der Universität hat meine Herkunft überhaupt keine Rolle gespielt.

Wenn du heute zurückblickst, betrachtest du dich heute gut und die gleichwertig in die Gesellschaft eingebettet?

Ich betrachte mich natürlich als gleichwertig und auch als ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Ich weiß, dass bestimmte Menschen meine Andersartigkeit auch als Andersartigkeit wahrnehmen, die man vielleicht in Abgrenzung zu einer Art homogener Masse, die man als Deutschland bzw. als deutsches Volk bezeichnen kann, stellen könnte. Aber das ist eher die Minderheit. Auch wenn das so geschieht, also wenn man als andersartig wahrgenommen wird, ist das ja nicht negativ, sondern zunächst einmal neutral, insofern als man einfach nur anders ist. Ob es nun negativ oder positiv ist, ist eine andere Frage. Aber diese negative Konnotation spüre ich weniger. Aber das liegt vielleicht einfach daran, dass ich einfach nicht mit bestimmten Menschen konfrontiert bin, für die das negativ konnotiert ist.

Wie hat sich die Situation deiner Eltern entwickelt, seitdem sie nach Deutschland gekommen sind, d.h. wie hat sich die Beschäftigungssituation im Vergleich zu Kasachstan der achtziger Jahre entwickelt, wie auch die Entwicklung der Sprache und die soziale Teilhabe?

Ich kann das ja erstmal so aufteilen nach Vater und Mutter.
Unser Vater hat sich trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten mehr oder weniger gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Das heißt, er hat ein sehr gutes Verständnis von der deutschen Gesellschaft, er weiß Bescheid über die tagesaktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurse. Er kann sehr gut Deutsch, obwohl seine Grammatik vielleicht nicht perfekt ist und seiner Aussprache merkt man die Herkunft an. Dennoch hat er ein sehr gutes Verständnis vom Deutschen, also ich würde sagen, da gibt es keine Schranken für ihn. Seine Andersartigkeit ist ihm natürlich anzumerken und die wird man ach nicht mehr loswerden. Trotz dessen hat er sich immer wieder in relativ widrigen Umständen assimilieren und seinen Platz behaupten können. Das war nicht immer einfach und das ging auch mit Konflikten einher, aber er hat`s geschafft. Und er hat sich hier auch konsequent beruflich weitergebildet, neu orientiert. Am Anfang war das eher so eine Orientierung hin zum Baugewerbe, wo er schließlich in leitender Position als Bauleiter sogar gearbeitet hat. Später gab es eher eine Verschiebung zum Metallbau. Da hat er sich als Konstrukteur zu schaffen gemacht , hat sich natürlich auch weitergebildet, um das auszuführen. Diese Fähigkeiten haben ihm dann geholfen und er hat sich sogar selbstständig gemacht mit eigenen Projekten. Dann ist er wieder ein traditionelles Beschäftigungsverhältnis eingegangen, dort war er wieder in leitender Position tätig, hier in Sachsen. Im Endeffekt war er dann trotzdem nicht gefeit vor Arbeitslosigkeit, hat aber eine andere Anstellung im Westen gefunden, in Nordrhein-Westfalen, wo er als Konstrukteur tätig ist und seine ganzen neu erworbenen Fähigkeiten einsetzen kann. Das heißt also, der berufliche Weg und die berufliche Höhe, die er in Kasachstan erreicht hat, haben sich so nicht übertragen auf Deutschland. Aber die Fähigkeiten, die es ihm ermöglicht haben, diese berufliche Höhe zu erklimmen, die haben sich sehr wohl übertragen, wobei diese eher so persönlicher Natur sind, und haben ihm hier die Möglichkeit gegeben, auch wieder eine gute berufliche Position einzunehmen. Und jetzt hat er ein festes Beschäftigungsverhältnis, das ihn zufrieden stellt und aus finanzieller Sicht auch gut ist.
Was die Mutter angeht, ist die Situation ein bisschen anders. Sie hatte Schwierigkeiten, die deutsche Sprache auf ein sehr gutes Niveau zu bringen. Sie kann gutes Deutsch, ist jetzt aber nicht in allen Sprachbereichen sehr beflissen. Es gibt bestimmte Limitationen, aber im Alltagsbereich kann sie sich durchaus gut verständigen und versteht auch alles. Nur das Problem ist das Selbstbewusstsein, das dadurch geschwächt ist, dass sie merkt, dass sie Deutsch nicht hundertprozentig beherrscht und dann entwickelt sich so eine Scham, die den Menschen immer in Zweifel setzt, ob er jetzt etwas richtig gesagt hat, gemacht hat, ob er sich richtig ausgedrückt hat, das richtig verstanden hat usw. Und das ist so ein grundlegender Zweifel über den eigenen Wert in der Gesellschaft und über die eigene Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft. Und das hat sich dahingehend ausgewirkt, dass meine Mutter nicht versucht hat oder nicht konsequent genug versucht hat, eine hohe berufliche Laufbahn einzuschlagen oder sich hier irgendwie weiterzubilden, etwas Neues zu machen wie mein Vater, sondern sie hat sich mehr oder weniger damit abgefunden, Aushilfsjobs und Gelegenheitsjobs bzw. Jobs auf einem eher niedrigen Lohnniveau anzunehmen und zu betreiben. Und das ist jetzt immer noch so.

Würdest du sagen, dass sich die Situation deines Vaters ins Positive und die deiner Mutter eher ins Negative entwickelt hat?

Naja, nicht ins Negative, also negativ ist für mich so etwas wie ein Scheitern. Es ist kein Scheitern, aber es ist kein richtiges Vorankommen. Es ist eine Konstanz, aber eine Konstanz auf einem Niveau, das vielleicht unter dem Niveau liegt, das sie in Kasachstan hatte.

Wie kommt sie damit zurecht?

Naja, sie kommt damit zurecht, gezwungenermaßen muss man ja damit zurechtkommen. Also die finanzielle Situation ist jetzt nicht so prekär, sondern eigentlich ziemlich gut. Der Vater verdient ausreichend und das, was sie verdient, trägt noch dazu bei. Sie hat die ganzen Jahre über einen Beruf ausgeführt und sich dementsprechend als jemand gefühlt, der gebraucht wird und der seine Fähigkeiten, zumindest in einem gewissen Maße, einsetzen kann für sich, um sich einfach besser zu fühlen.

Wie haben sich die persönlichen Kontakte deiner Eltern entwickelt? Stehen sie in guter Interaktion mit den Einheimischen?

Welche Einheimische? Mit den Deutschen, meinst du? Naja, so richtige feste Bande haben sich jetzt mit Deutschen nicht entwickeln können. Ich würde aber nicht unbedingt sagen, dass es daran liegt oder gescheitert ist, dass es dieses „deutsch-russische Verhältnis“ gibt, sondern weil einfach wenig zeit da war. Wenn man die ganze Zeit arbeiten muss – und meine Mutter hat ja dann auch hier in Deutschland noch ein Kind bekommen – sich um das Kind kümmern muss und dann noch nebenbei arbeitet, bleibt wenig Zeit. Ich würde sagen, der Fokus war eher der, dass man sich auf die Familie und den Beruf konzentriert hat, nicht irgendwelche außerfamiliären Bindungen, das nicht.

Und wie haben sich deine persönlichen Beziehungen mit den „Deutschen“ entwickelt?

Ja, also lange Zeit hatte ich keine deutschen Freunde oder so etwas, sondern das waren eher so Aussiedler, mit denen ich freundschaftliche Kontakte gepflegt habe. Das hat sich dann mit der Zeit geändert als ich dann in den späteren Klassen des Gymnasiums Deutsche kennengelernt habe, mit denen ich auch freundschaftliche Verhältnisse pflegen konnte. Davor war das nicht so, da waren es eher Menschen mit dem gleichen sozioökonomischen bzw. Migrationshintergrund.

Noch eine abschließende Frage: Was assoziierst du mit Kasachstan? Hast du selbst Stereotype oder sind dir Stereotype in Deutschland zu Kasachstan begegnet?

Nein, in Deutschland gibt es keine Stereotype über Kasachstan, weil in Deutschland Kasachstan nicht so eine große Rolle spielt. Viele Deutsche kennen Kasachstan nicht und haben auch nicht einmal ein Bewusstsein über Stereotype. Wenn es ein Bewusstsein gibt, dann ist es ein Bewusstsein, das von den westlichen Medien geschaffen wurde und eher so von humoristischer Natur ist. Oder wenn man Leute aus Kasachstan kennt, dann sind das eher ethnische Russen und dann assoziiert man das eher so mit Russen oder…

…der Sowjetunion?

Naja, nein, mit der Sowjetunion würde ich nicht einmal sagen. Also Kasachstan, das gibt es schon, aber das ist eher so eine Leerstelle im deutschen Bewusstsein, also man weiß nicht, was Kasachstan ist, wer da herkommt usw. Es ist ganz schwierig, die traditionellen Kategorien, an die sich die deutsche Bevölkerung so gewöhnt hat – dass man sagt, es gibt einen Nationalstaat und dann gibt es eine Bevölkerung, die dem Namen des Nationalstaats entspricht und die sind dann mehr oder weniger alle homogen usw. –, diese Kategorien passen eben nicht auf Kasachstan bzw. auf die Leute aus Kasachstan, die hier in Deutschland leben. Deswegen kommt man dann immer wieder in so eine Situation, in der man erst einmal erklären muss, was der Hintergrund ist usw.

…wenn man ins Gespräch mit „Deutschen“ kommt und die einen nach der Herkunft fragen?

Genau, ja.